Kunst und Kultur auf Samsø

Man kann vom Distelfieber befallen werden

Das Pflanzenkunstprojekt Tidselkorridoren (dt.: Diestelkorridor), von der Samsøer Künstlerin Lotte Buur erschaffen, ist eine grüne Erlebnistour durch einen Korridor voller Disteln, Insekten und Blumen, die am Straßenrand zu finden sind. Es ist auch ein Ort, an dem man sich zu tiefschürfenden Gesprächen trifft und den Zusammenhalt im Kampf gegen eine Kattegatbrücke über Samsø verspürt.

Von Mie Petri Lind

Distelkorridor versus Autobahnschneise
Bei Nørreskifte, südlich des Ballener Fährhafens, wird eines der Samsøer Felder von einem sich windenden Pfad durchschnitten, der vom Weg bis zur Küste führt. „Der Distelkorridor“ heißt das Landschaftskunstprojekt, das eine bunte Mischung aus Biodiversität, Ästhetik und Brückenwiderstand ist.

Initiatoren des Distelkorridors sind die Samsøer Künstlerin und Keramikerin Lotte Buur sowie eine Gruppe Freiwillige. Seit 2004 lebt und arbeitet Lotte Buur auf Samsø. Es ist die Insel, von der ihr Vater stammt und die sie selbst in den Ferien während ihres ganzen Lebens besucht hat. „Es ist ja auf seine ganz eigene Art eine kleine Welt: Keramik, der Garten, Samsø. Aber es steckt so viel drin. Es ist so inhaltsreich“, erzählt Lotte, die in ihrer Kunst oft die Natur und deren Vergänglichkeit thematisiert.

Dass sie Landschaftskunst erschaffen würde – also ein an einer bestimmten Stelle in der Landschaft erschaffenes Kunstwerk – war eine logische Konsequenz des Vorschlages einer festen Kattegatquerung via Samsø: „Die Idee des Distelkorridors entstand, als die ersten Skizzen mit möglichen Streckenführungen für einen Autobahnkorridor über Samsø veröffentlicht worden waren. Plötzlich wurde es sehr plastisch und konkret, dass unabhängig von der Streckenführung eine Autobahn zerstörerisch wäre. Für die Natur und die Bewohner. Insgesamt würde der Bau einer Brücke nach Samsø bedeuten, dass die Inselbevölkerung keine Inselbevölkerung mehr wäre”, meint Lotte, die mit ihrer künstlerischen Praxis ihren Widerstand demonstrieren und etwas erschaffen wollte, das zum Nachdenken anregt und die Gefühle anspricht: „Ich kann etwas mit Erde und Pflanzen und Kunst. Das möchte ich nutzen, um ein Werk zu schaffen, bei dem man merkt, dass etwas verschwindet, wenn eine Autobahn über Samsø in die Realität umgesetzt wird.“ Die Distelkorridor-Initiatorengruppe schreibt im Projektflyer: „Im Zuge des Brückenwiderstands repräsentiert der Distelkorridor Ruhe, Langsamkeit, die Landschaften, die Landstraßen, die Straßenränder und all das Lebendige um uns herum, den Ort, an dem sich Kunst und Landschaft begegnen … und sie sticht!“

Die laute, hübsche Distel

Und ja, Disteln stechen! Die meisten Gartenbesitzer tun sich schwer mit den tückischen Pflanzen, die sich nur schlecht entfernen lassen – auch Lotte Buur. Also warum ausgerechnet ein Korridor aus Disteln? Die Antwort befindet sich in Lottes Garten: dort hatte sich eine riesige Distel selbst mitten im Staudenbeet gesät. „Sie war laut“ erinnert sich Lotte, „aber mir wurden auch die Augen für ihre Schönheit geöffnet – und ihre Fähigkeit, zu stören.“ Das war der Startschuss für eine Untersuchung der Distel, ihrer Eigenschaften und ihrer Geschichte. „Die Distel ist kontrovers – sowohl Landwirte als auch Gartenbesitzer bekämpfen sie. Sie ist unangenehm und lässt sich nicht kontrollieren. Dafür haben wir kaum Raum in unserer Gesellschaft. Obwohl wir wilde Gärten haben, tun wir uns mit der Distel schwer. Aber je mehr ich über die Distel erfahren hatte, desto interessanter wurde sie. Sie enthält Nahrung für die Tiere, wird medizinisch verwendet und wurde auch früher als Symbol der Verteidigung und des Widerstands genutzt“, weiß Lotte und ergänzt lächelnd: „Man kann vom Distelfieber befallen werden! Es wäre schön, wenn die Leute in Zukunft eine Distel im Vorgarten stehen haben wollen.“

Lotte begann damit, Saat für den Korridor zu sammeln. Viele Samen stammen von Samsø, aber nicht alle. Es sind welche von wilden und nicht-wilden Disteln sowie von Mannstreu und Flockenblume. Das Werk wurde so angelegt, dass sich Farben, Größen und Strukturen gegenseitig ergänzen und einen starken ästhetischen Eindruck hinterlassen, während die Zusammenstellung der Pflanzen gute Bedingungen für die Biodiversität sichert. Es gibt auch Disteln, die nicht im Distelkorridor wachsen dürfen, zum Beispiel die Acker-Kratzdistel, die wegen der umliegenden landwirtschaftlichen Betriebe nicht ausgesät worden ist.

„Es ist spannend, was das mit der Biodiversität macht – es gibt jede Menge Insekten und Vögel, und es wäre wunderbar, wenn der Feldbesitzer, der die zu bestäubende Saatproduktion besitzt, von der verbesserten Biodiversität profitiert, die das Werk mit sich zieht“, erzählt Lotte.

Unkraut und Zusammenhalt
Obwohl es Lotte Buur war, die die Idee für den Distelkorridor hatte, arbeitet sie bei weitem nicht alleine daran. Eine Gruppe Ehrenamtlicher hat von Anfang an beim Säen, Unkrautzupfen und der Pflege des wachsenden Werks geholfen. Im ersten Jahr, als die kleinen Pflanzen nach einem genau skizzierten Plan gepflanzt werden sollten, trafen sich die Freiwilligen mehrmals pro Woche im Korridor zum Entfernen des Unkrauts. Vor allem der Schwarze Nachtschatten hatte den Freiwilligen zugesetzt: „Wir waren völlig kaputt und uns tat der ganze Körper weh“, erinnert sich Lotte. Es war – und ist – ab und zu schwer für Lotte und den Rest der Gruppe, nicht auch versehentlich die Disteln aus dem Korridor zu entfernen, wenn sie Unkraut zupfen. „Wir Gartenmenschen haben so sehr verinnerlicht, dass die Distel unerwünscht ist, dass man sie leicht automatisch entfernt. Aber wir alle haben gelernt, die Disteln zu mögen. Es stimmt nachdenklich, dass man seine Ansicht ändern kann, indem man die Dinge einfach ein wenig verändert.“

Allen Freiwilligen ist Samsø sehr wichtig, und sie wollen die Insel so, wie sie ist, bewahren. Deshalb liegt ihnen die Arbeit am Distelkorridor am Herzen. Alle fühlen sich für das Projekt verantwortlich und es ist ein starker Zusammenhalt in der Gruppe entstanden. „Es entsteht etwas ganz Besonderes, wenn man zusammen ist und körperlich arbeitet. So entwickeln sich ganz andere Gespräche, und es wird über viele Dinge gesprochen”, berichtet Anne, eine der Ehrenamtlichen. „Der Distelkorridor hat sich zu einem Ort entwickelt, an dem man sich trifft – auch, wenn keine Arbeit und kein Entfernen von Unkraut anstehen. Es ist ein physischer Ort, an dem der Widerstand gegen die Brücke konkret geworden ist“, ergänzt Lotte.

Im veränderlichen Distelkorridor treffen Kunst und Landschaft aufeinander und es entstehen ein Zusammenhalt sowie Debatten. Vom Pfad aus hat man einen Panoramablick auf das offene Meer in Richtung Osten, wobei die Halbinsel Røsnæs am Horizont zu sehen ist – so sollte es auch gerne bleiben.

TIDSELKORRIDOREN

  • Der Distelkorridor ist ganzjährig und rund um die Uhr zugänglich.
  • Der Distelkorridor befindet sich ca. 100 Meter südlich vom Nørreskiftevej 27.
  • Im Distelkorridor wachsen ca. 15 unterschiedlichen Arten von Disteln, Flockenblumen und Mannstreu. Und es kommen weitere dazu.
  • Es können kleine Saatbeutel mit Saat aus dem Distelkorridor erworben werden, so dass man sich ein kleines Stück Distelkorridor mit nach Hause nehmen kann!
  • Der Distelkorridor wurde von der Künstlerin Lotte Buur gemeinsam mit einer Reihe Freiwilliger erschaffen und wird vom Kunstrat der Gemeinde Samsø gefördert.
  • Vom 5. April bis zum 28. Juni 2024 kann die Ausstellung „Distelfieber” mit Kunstwerken mit einem Bezug zum Distelkorridor im Anton-Rosen-Haus in Tranebjerg besichtigt werden.

Zuletzt geändert: 22/10/2024 20:40