Königin des Südens
Auf die Frage: „Wer ist die Königin des Sü¬dens?“ muss ich dem Leser leider die Ant-wort schuldig bleiben. Aber falls man das Fragewort „Wer?“ in „Was?“ umändert, fällt die Antwort leichter, nämlich: „Eine gute Geschichte!“
Samsø ist heute wohl am bekanntesten für seine Frühkartoffeln, aber das war nicht immer so. Anfang des 19. Jahrhunderts war es um den lokalen Kartoffelanbau nur dürftig bestellt. Professor Begtrup schreibt 1808 nämlich in seinem Hauptwerk „Der Zustand des Ackerbaus in Dänemark“ folgendes über Samsø: „Jeder Bauernhof verfügt über einen Obstbaumgarten, dazu etwas Grünkohl, aber nur wenige Kartoffeln.“ Hier, wie auch im Rest des Landes, gewann die Kartoffel aber stetig an Boden und im Jahre 1851 konnte der Landpfarrer in Nordby, Pastor Heegaard, berichten, dass „heute viel mehr Kartoffeln angebaut werden als früher, jedoch zur Ausfuhr.“ 15 Jahre später waren 363 Morgen Ackerland für den Anbau von Kartoffeln vorgesehen. Das mag viel klingen, aber im Vergleich dazu verfügte die Insel zur gleichen Zeit über mehr als 7500 Morgen Ackerland für Getreide.
Ein Katzenstreit
Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde ein echter Katzenstreit zum Anlass für das spätere samsøer Kartoffelabenteuer. Drei Tranebjerger Bürger, Zollverwalter Fryd, Apotheker Schultz und Doktor Engberg zeigten alle großen Interesse an neuen und seltenen Kartoffelsorten. Sie gaben Züchtungsversuche mit neuen Sorten, u.a. aus England, Italien und Südamerika, in Auftrag und stellten Veredlungsexperimente mit dem schnell wachsenden Versuchsmaterial an. Alleine aus einem anerkannten Versuchsinstitut in Erfurt bekamen sie mehr als 20 verschiedene Sorten. Die Versuche sahen vielversprechend aus. Die Knollen wurden versuchsweise angebaut und verstärkt, Leistung, Qualität und Wachstum der verschiedenen Sorten genau aufgezeichnet. Im Winter wurde die ganze Sammlung, sorgfältig beschriftet, im Apothekerkeller zwischengelagert. Die wissenschaftlichen Bestrebungen der drei Herren kamen aber leider zu einem abrupten Ende, als zwei Katzen versehentlich Zugang zum Keller bekamen. Sie richteten so viel Chaos an, dass weitere Kartoffelexperimente aufgegeben und die mühsam gekreuzten Knollenarten weggeschmissen werden mussten. Dem Gärtner des Apothekers, Hans Hansen, wurde hinterher aufgetragen, den Tatort aufzuräumen und so wurde die ganze Kartoffelgeschichte zu Rauch auf dem Komposthaufen.
Geburt einer Königin
Später im Frühjahr bemerkte Hans Hansen, der als Handlan¬ger bei den Versuchsreihen mitgeholfen hatte, dass eine kräftige Kartoffelpflanze aus dem Komposthaufen emporwuchs. Sie erinnerte an eine der Pflanzen, die sich bei den Versuchen als am vielversprechendsten gezeigt hatte und wies unter der grünen Krone bereits viele früh entwickelte Knollen auf. Hans Hansen nahm die kleinen Kartoffeln mit nach Hause und setzte eine Neubelebung der Sorte in Gang. Diese erwies sich nicht nur als eine Züchtung, die er zuvor angebaut hatte, denn sie spross deutlich früher. Er gab ihr den Namen „Sydens dronning“ („Königin des Südens“), weil er wusste, dass viele Knollen für die Versuche des Apothekers aus dem Süden geholt wurden. Daraufhin konnte Hans Hansen mehrere Jahre lang zwei Wochen vor allen anderen neue Kartoffeln liefern, und wachte daher sehr streng über die neue Sorte. Nach ein paar Jahren überließ er jedoch einen kleinen Anteil seinem Bruder Mourits, der dafür feierlich versprechen musste, die Kartoffeln nicht an andere zu verkaufen. Das Gerücht über die Frühkartoffel der Brüder verbreitete sich jedoch über die Insel, und auch wenn die Frühkartoffeln nicht zum Kauf standen, konnte Mourits, ein leidenschaftlicher Jäger, dem Drang nicht widerstehen, im Tausch gegen eine kleine Portion Frühkartoffeln ein seit langem begehrtes Jagd-Grundstück zu erwerben. Danach verbreitete sich die Sorte schnell unter den Züchtern auf der Insel, bis sie sogar die davor angebauten Sorten verdrängte, da sie nicht nur früher trug, sondern die ande-ren auch in Ertragsleistung und Qualität übertraf.
Am richtigen Fleck
In den 1930ern, 40ern und 50ern wurde die Königin des Sü¬dens auf ganz Samsø angebaut, in erster Linie von der kleinen und mittelständischen Landwirtschaft, bald aber ließen sich auch die meisten Kleingärtner verführen mitzumachen. Es sorgte für besondere Aufregung, eine neue Kartoffel zu züchten. Der Preis konnte dramatisch von Tag zu Tag schwanken. Der Erfolg der Samsøer Frühkartoffeln war aber nicht nur der Sorte geschuldet. Andere Faktoren, wie das milde Klima der Insel, das bewirkt, dass der Frost ein wenig früher als auf dem Festland seinen Griff lockert, sowie der Faktor Mensch, spielten eine Rolle. Denn der Bauer sollte sein Land kennen. Und hier fand jeder den Flecken auf seinem Land, der sich am besten für sein „Kartoffelstück“ eignete.
Timing ist alles
Die Erträge waren gut, auch wenn sie harte Arbeit erforderten. Denn die Kartoffeln mussten vorgekeimt werden und das geschah am häufigsten im warmen Kuhstall. „Jeder hier auf der Insel braucht Kühe“, erzählte ein Kleinbauer 1951 einem interessierten Journalisten. Und da war etwas dran, denn zu diesem Zeitpunkt gab es etwa 700 Viehherden auf der Insel, die meisten davon ziemlich klein, aber groß genug für einen Schuppen für Kartoffelkeimung. Im März mussten die vorgekeimten Kartof¬feln dann in den Boden, am liebsten eine Woche vor dem letzten Nachtfrost – nicht immer eine leichte Aufgabe, dies genau zu treffen! In den darauffolgenden Monaten hing alles vom Wetter und der liebevollen Pflege mit dem Hakenpflug ab. Am Verfassungstag – dem 5. Juni – konnte man anfangen, die Kartoffeln aus dem Boden hervorzuholen. Dies war oft eine Aufgabe für die gesamte Familie und es musste früh damit begonnen werden, um den Ertrag für das vereinbarte Stück geerntet zu haben, bis mittags der Lastwagen die Kartoffelkästen abholen kam. Denn die frisch geernteten Kartoffeln sollten ja gleich am nächsten Morgen auf dem Gemüsemarkt zum Verkauf stehen.
Die englische Verbindung
Nach und nach sprach sich der gute Ruf der „Königin des Südens“ herum, wie man nachlesen kann im Buch „Dyrkning af Køkkenurter paa Friland og under Glas“ („Der Anbau von Küchenkräutern in Freiluft und unter Glas“) aus 1943, mit einer Farbtafel mit vier guten Frühkartoffel-Sorten: Sydens Dronning (Königin des Südens), Sharpes Express, Di Vernon und Juli. Ebenfalls 1943 gab der Samsøer Landbauverein sein offizielles Gutachten dazu ab, dass nun die Königin des Südens auch außerhalb der Insel angebaut werden konnte. Ob die Königin des Südens eine unabhängige Sorte war, die ursprünglich von Samsø stammte, blieb über Jahrzehnte eine große Frage. Landwirt Jens Gylling Holm beschrieb 1947 die Samsøer Landwirtschaft in seinem Buch „Samsø, Danmarks Midtpunkt“ („Samsø, Dänemarks Mittelpunkt“) und sagte zur Königin des Südens: „Sie erinnert an nichts so sehr wie an die Sorte Sharpes Express, scheint aber weder identisch mit dieser, noch einer anderen weit verbreiteten Sorte.“
Neue Samsø-Kartoffeln gehören heute weiterhin zu den wichtigsten Kulturpflanzen der Insel, aber das Abenteuer mit der Königin des Südens ist endgültig vorüber. Andere Sorten haben sie längst verdrängt, sie sowohl in Bezug auf Qualität als auf Leistung überholt. In weiteren Zuchtprogrammen findet ständige Veredlungsarbeit statt, die jedes Jahr neue Sorten hervorbringt. Auch die Anbaumethoden haben sich geändert, sowie die Keimung, die heutzutage unter streng kontrollierten Temperatur-und Lichtverhältnissen stattfindet, und der Anbau unter Kunststoff und mit der Möglichkeit der effizienten Bewässerung bis hin zur Ernte, wobei vielleicht noch die allerersten Kilos mit sanften Händen gehoben werden, dann aber bald große Maschinen die Arbeit übernehmen. Nur die Aufregung um das Anbauen von Frühkartoffeln ist geblieben!
Auch wenn die Königin des Südens nicht länger (offiziell) an¬gebaut wird, ist sie noch nicht ganz verschwunden. Da und dort trifft man sie immer wieder in Gärten auf Samsø. 1998 versuchte Leif Hansen aus Samsø das Rätsel auf wissenschaftliche Weise zu lösen. Er schickte die Saatkartoffeln an die Nordische Genbank in Schweden. Das Ergebnis lag vier Jahre später vor: die Königin des Südens ist tatsächlich identisch mit der bereits bekannten britischen Sorte Sharpes Express. Die Pflanze, die Hans Hansen auf dem Komposthaufen des Apothekers gefunden hatte, ist also nicht das Ergebnis von Züchtungsexperimenten, sondern eine ausgekeimte Pflanze der Elternsorten.
Von Lis Nymark, Museumsinspektor, Samsø Museum
Der Artikel wurde vorher in der Zeitschrift Skalk veröffentlicht
Zuletzt geändert: 12/08/2020 15:13