Mit blutiger Feder auf Samsø unterwegs
Sissel-Jo Gazans neuester Roman „Hvide blomster“ (dt.: „Weiße Blumen“) spielt Anfang der 90er Jahre auf Samsø. Im Buch werden die Leserinnen und Leser in die Landschaft der Insel und zu den verborgenen Seiten der Einheimischen mitgenommen.
Ein Großteil der Handlung Ihres neuesten Romans „Hvide blomster“ findet auf Samsø statt, wo Sie selbst einen Teil Ihrer Kindheit verbracht haben. Wie würden Sie Samsø anno 1993 beschreiben, das Jahr, in dem die Romanhandlung beginnt?
1993 lebte ich in Portugal, wo ich übrigens an meinem ersten Roman schrieb. Deshalb glaube ich nicht, dass ich 1993 auch nur ein einziges Mal auf der Insel war. Dafür war ich aber 1994 dort, denn ich kam aus Lissabon zurück und hatte einige Monate lang keine Wohnung, so dass ich bei meiner Mutter auf ihrem Hof auf der Südinsel wohnte. Ich war damals recht verwirrt und wusste nicht genau, was ich wollte und wer ich war. Während meines Aufenthaltes geschahen jedoch zwei gute Dinge: ich hatte zehn Kilo abgenommen, die ich mir in Lissabon mithilfe von Pastel de nata angefuttert hatte ;-), indem ich viel im Brattingsborger Wald joggen ging, der auf alle Fälle „der Wald meiner Kindheit“ ist. Während ich mich auf der Insel aufhielt, wurde auch mein erster Roman angenommen. Ich muss wohl einen Brief bekommen haben … oder vielleicht einen Telefonanruf. Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass meine Mutter draußen auf dem Hofplatz ein Fahrrad flickte, als ich die Nachricht erhielt und zu ihr hinausging um ihr zu erzählen, dass mein erster Roman angenommen worden war.
Danach fuhren wir mit dem Rad zum Flinchs Hotel, um dies mit einem guten Essen zu feiern. Das war etwas ganz Großes und der Beginn meiner Karriere, aber das wusste ich ja damals nicht, also in welchem Ausmaß es Bedeutung haben würde. Mein Eindruck von 1994 war deshalb: Nach Hause zu kommen und von der Natur geheilt zu werden, für die ich Samsø schon immer geliebt hatte. Vor allem die auf der Südinsel, wo ich den Wald und die Strände wirklich gut kenne. Und dann war da noch das gemütliche Landleben, bei dem man in das Hotel im Ort fährt, um gut essen zu gehen, wenn es etwas zu feiern gibt.
Die Hauptperson des Romans wohnt in Ejby, und die zwei Cousinen Jenny und Tessa halten sich viel im und beim Dorf auf. Welche Bedeutung hatte der kleine, von Naturlandschaft umgebene Ort, für Sie in Ihrer Kindheit, und wie nutzen Sie die Landschaft heute?
Für mich wurde durch den Umzug nach Samsø ein Traum wahr. Ich war noch ein Kind und fand es toll, plötzlich wie im Film in einem Haus draußen auf dem Land zu leben. Nachdem ich viele Jahre lang in der Stadt gelebt hatte, entsprach dies tatsächlich meinen Vorstellungen vom Landleben: Stroh einzufahren für unsere Strohheizung und dabei ganz oben auf dem Hänger auf dem Strohhaufen zu sitzen, etwas aus dem Versandhauskatalog zu bestellen, zu sagen: „wir verreisen“, wenn ein Ausflug aufs Festland bevorstand, an hellen Sommerabenden in das Dorf zu radeln und am Dorfteich in Ørby zu spielen, zum Reiten zu gehen und mit dem Schulbus zu fahren.
Diese Jahre bildeten auch den Grundstein für mein Verhältnis zur Natur. Es war ein Verhältnis, an dem ich festhielt, indem ich mich zur Biologin ausbilden ließ und die Natur in alle meine Romane einbeziehe. Deshalb lag es für mich auch auf der Hand, irgendwann einen Roman zu schreiben, der auf Samsø spielt und deren Hauptperson eng mit der Natur verbunden ist. Ich habe selbst viel in der Samsøer Natur nachgedacht, bin dort gewachsen und ein Mensch geworden, während ich durch den Wald und am Meer entlang gegangen war.
Der Roman wird aus der Sicht der 14-jährigen Jenny erzählt, der die Natur viel bedeutet. Wie war Ihr eigenes Verhältnis zur Natur, als Sie auf Samsø groß wurden?
Die Natur war im Vergleich zur Stadt sehr intensiv, was ich geliebt habe. Man fühlte sich lebendiger, wenn die Natur etwas ist, wozu man jeden Tag Stellung beziehen muss. Wir hatten einen Eiswinter, in dem ich wegen Schneeverwehungen nicht über die Straßen in die Schule kommen konnte, und wir mussten über die Felder dorthin gehen. Deshalb erlebte ich alles wirklicher, nachdem ich auf die Insel gezogen war – richtige Winter und richtige Sommer. Das hat mich mit Sicherheit zu der Person gemacht, die ich heute bin, und mir bewusst gemacht, wie wichtig die Natur für Kinder ist.
Sie haben einen Master-Abschluss in Biologie, und in diesem sowie in früheren Romanen spielt die Natur eine entscheidende Rolle. Welche Bedeutung hat die Natur für Sie als Erwachsene?
Ich bin sehr eng mit der Natur verbunden, möchte sie jedoch am liebsten aus einer gewissen Entfernung erleben – durch ein Mikroskop, indem ich über sie lese oder dort einen Spaziergang mache und sie bewundere, dann aber wieder nach Hause gehe. Ich bin nicht so eine, die jedes Wochenende in einer Shelterhütte verbringt und sich die Finger nicht genug schmutzig machen kann – überhaupt nicht! Ich bin aber sehr fasziniert von der Natur als Phänomen und glaube, dass ich nie damit aufhören werde, über sie zu schreiben und/oder sie in meine Literatur einzubeziehen.
Ihr Roman ist auch eine düstere Erzählung über Vernachlässigung, Übergriffe, Macht und Ohnmacht, und Sie haben Ihre Bearbeitung der dunklen Themen als eine Art künstlerische Rache beschrieben. Können Sie erklären, was künstlerische Rache bedeutet?
Rache ist garantiert ein Gefühl, das wir alle kennen und von dem ich behaupte, dass wir es alle irgendwann in größerem oder geringerem Ausmaß in unserem Leben erlebt haben. Aber es ist nicht gut, sich zu rächen, und es ist ja auch verboten. Und was tut man, wenn man trotzdem das aufrichtige Bedürfnis hat, sich zu rächen und mit dem Gefühl nicht klarkommt? Wenn man sich wirklich rächen muss, um sein Leben weiterleben zu können?
Dann rächt man sich auf künstlerische Art, indem man es z. B. macht wie ich, die mittlerweile sehr viele Menschen auf dem Papier getötet hat. Das ist ja das Gute an der Kunst: Sie ist eine Arena für all das, was verboten, schwer und nicht gestattet ist, und das ist das Geniale beispielsweise am Autorendasein. Das Gefühl, die Macht zu haben, jede Menge Entscheidungen zu treffen, die man in der Realität nie treffen würde – und ungestraft davonzukommen.
Die Personen und mehrere der Orte im Roman sind frei erfunden, aber Sie haben erzählt, dass die Ereignisse wirklich stattgefunden haben – jedoch nicht alle auf Samsø. Wie war es, dieses Dunkle an einem Ort spielen zu lassen, wo Sie und Ihre Familie einen großen Bekanntenkreis haben? Hatten Sie Angst vor den Reaktionen der Einheimischen?
Doch, die hatte ich ein wenig gefürchtet. Ich hatte viel recherchiert und irgendwann fragte ich einen alten Bekannten nach einem Vorfall, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnern konnte, aber ich war nicht hundertprozentig sicher. Es ging darum, dass in unserem Dorf ein älterer Mann mit einem sehr jungen Mädchen ins Bett ging. Ich wusste nicht genau, wie alt sie eigentlich war, und das versuchte ich herauszufinden, indem ich Menschen befragte, die damals auch im Dorf wohnten. Der Mann, den ich fragte, antwortete: „Ist es nicht ein bisschen riskant, darüber zu schreiben?“ In dem Augenblick wusste ich, dass ich genau deshalb den Roman schreiben musste.
Ich hatte das Gefühl, darüber schreiben zu müssen, weil es eben gefährlich ist und weil ich erlebt hatte, dass über bestimmte Dinge nicht gesprochen wird. Deshalb konnte ich die Geschehnisse viele Jahre lang nicht vergessen. Weil Dinge passiert sind, die ganz einfach falsch sind und die kein Kind erleben sollte. Ich möchte jedoch betonen, dass die Handlung in „Hvide blomster“ wahrscheinlich in allen Schichten der Gesellschaft überall in Dänemark passiert sein könnte. Genau das macht die Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern so außergewöhnlich und unheimlich – es passiert überall, ständig und in allen Gesellschaftsschichten.
Ich habe mich aus mehreren Gründen dazu entschieden, diesen Roman auf Samsø spielen zu lassen. Einerseits wollte ich seit mehreren Jahren etwas mit Samsø schreiben, weil ich hier aufgewachsen bin. Andererseits treten bestimmte Dinge in kleineren Orten schneller zum Vorschein. Deshalb dachte ich auf Samsø zum ersten Mal persönlich darüber nach, dass in den Familien, bei denen ich zu Besuch war, etwas nicht stimmte, und mir wurde bewusst, wie behütet ich lebte. Es geschahen Dinge, die nicht hätten geschehen sollen, und die Erwachsenen wussten darüber Bescheid. Aber ich glaube leider nicht, dass es typisch für Samsø, sondern für alle Gebiete ist. Deshalb ist es ja so unheimlich!
Sie leben gemeinsam mit Ihren Kindern in Berlin, die in einer – recht grünen – Großstadt aufgewachsen sind. Wie passen sich Ihre Kinder an den Samsø-Rhythmus an, wenn sie bei deiner Mutter Urlaub machen?
Meine drei Kinder lieben alle Samsø und den Hof meiner Mutter, und alle drei haben davon geträumt, eine Zeitlang dorthin zu ziehen. Es ist einfach etwas Besonderes, als Kind auf dem Land zu leben – man schaltet einen Gang herunter, hilft der Oma im Garten, buddelt in der Erde, hat Tiere, all sowas. Sie werden völlig tiefenentspannt und fühlen sich sehr wohl mit dem einfachen Leben, in dem alles mehr vorgegeben ist und wo ein Großteil des Lebens draußen stattfindet. Aber Kinder können sich auch leicht an neue Situationen anpassen. Deshalb habe ich eigentlich das Gefühl, dass ich Stadt- und Dorfkinder habe – sie passen sich schnell an den Rhythmus beider Orte an.
Lola, Ihre älteste Tochter, hat den letzten Sommer komplett auf Samsø verbracht, wo sie u. a. im Restaurant „Samsø Madsnedkeri“ arbeitete. Was kann Samsø Ihrer Meinung nach einer 19-Jährigen wie ihr bieten?
Ich bin mir sicher, dass sie sehr davon profitiert hat, auf Samsø zu arbeiten, und dass sie den Kontakt zu ihren Freundinnen und Kolleginnen aufrechterhält. Das war coronabedingt leider recht eingeschränkt, denn ich hatte für sie auf das Samsø Festival gehofft und viele helle Nächte und Partys am Strand und so etwas – all das, was ich selbst erlebt habe und woran ich große Freude gehabt habe, aber es wurde ja ein Jahr, das recht anders war.
Deshalb hoffe ich, dass sie wieder zum Arbeiten nach Samsø kommt, und ich weiß, dass das gemeinsam mit ein paar Freundinnen plant. Mir hat es auch sehr viel Spaß gemacht, jedes Jahr wieder nach Samsø zurückzukehren. Ich habe mich schon immer mit alten Freunden beim Samsø Festival getroffen, was sehr schön ist – sowohl bevor ich Kinder hatte als auch mit früher kleinen und jetzt großen Kindern. Man fühlt sich sehr mit der Insel verbunden, und ich hoffe, dass es meinen Kindern auch so gehen wird, obwohl sie hier nie zur Schule gegangen sind oder permanent gewohnt haben. Das Gefühl, zu verreisen, aber auch zuhause zu sein.
Über Sissel-Jo
- Sissel-Jo wurde 1973 geboren.
- Sie lebte ab 1984 einige Jahre lang auf Samsø.
- Sissel-Jo hat sieben Romane geschrieben und mehrere Preise für ihre Werke erhalten, u. a. den Romanpreis des dänischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens, den Buchpreis der Leser und das Goldene Hackmesser, das von 2000 bis 2010 für die Lieblingskrimis der Dänen verliehen wurde.
- Der Debutroman „Dinosaurierfedern“ wurde in 17 Länder verkauft, und alleine in Dänemark wurden mehr als 200.000 Exemplare gedruckt.
- Für „Dinosaurierfedern” und den Nachfolgeroman „Svalens Graf“ wurden gerade die Filmrechte verkauft.
- Sissel-Jos Mutter Janne Hejgaard, die auch Buchautorin ist, lebt auf Samsø.
- „Hvide blomster“ ist in der Touristeninformation in Tranebjerg und in VisitSamsøs Onlineshop erhältlich.
Zuletzt geändert: 24/02/2021 15:31